Nichts wegzuwerfen hat Renate Fabricius bereits in ihrer Kindheit gelernt. Insofern wurde auch früh ihre Kreativität gefördert. Sie lernte, in den Dingen mehr zu sehen als nur ihre Nützlichkeit, und so schuf sie schon als Teenager ein erstes Bildrelief. Später fing sie zu malen an, bis sie dann auf die Idee kam, ein Bild mit schräg durchgeschnittenen und bemalten Weinkorken zu machen. Sie teilte eine quadratische, weiß grundierte Leinwand in vier dreieckige Felder und legte die bunt bemalten Korken von der Mitte aus systematisch in alle vier Himmelsrichtungen und befestigte sie mit Strukturpaste. „Quadrat bunt“, ihr erstes Bild in der neuen Technik, war fertig. Das war im Jahr 1998. Weil aber ihre Liebe zum unbunten Weiß größer ist als zu allen anderen Farben, machte sie alles noch einmal. So entstand „Quadrat weiß“.
Bei Renate Fabricius sind die gesammelten Gegenstände an sich wertlos. Sie wurden von ihr nicht um ihrer selbst willen gesammelt, sondern als Arbeitsmaterial. Sie erfüllen denselben Zweck wie Pinsel und Farbe beim Malen. Dass Renate Fabricius ihre Bildreliefs häufig mit Weinkorken gestaltet, ist für die Bildaussage unwesentlich, eher ein Kuriosum, das den Betrachter zusätzlich neugierig macht. Wollte man eine Anbindung in der Kunstgeschichte suchen, dann fände man diese am ehesten bei „Zero“, der Kunstbewegung der 1950er Jahre und der Konzentration auf die Farbe Weiß. Zu nennen wäre hier besonders Enrico Castellani, ein italienischer Maler, der zu Zero eine enge Verbindung hatte. Er modulierte seine monochromen, oft rein weißen Bilder reliefplastisch, um die Reflexion des Lichts rhythmisch erscheinen zu lassen.
Auch Renate Fabricius’ Ziel ist es, das Licht in ihren Bildreliefs einzufangen, rhythmisch zu strukturieren oder in Schwingung zu versetzen wie in „Tatzelwurm“. Sie macht kein Geheimnis daraus, dass die sichtbaren Gegenstände gebraucht sind. Bei den Weinkorken zum Beispiel sieht man oft noch das Loch, das der Korkenzieher hinterlassen hat. Und das ist keine Nachlässigkeit. Diese würde sich die Perfektionistin nie durchgehen lassen. Der Gegenstand, so wertlos er auch ist, soll durch die Bildbearbeitung nicht ganz verschwinden. Allerdings soll er sich auch nicht zu sehr in den Vordergrund schieben. Die Korken werden in unterschiedlichen Variationen geschnitten, bemalt, gelocht und mit Strukturpaste auf der Leinwand befestigt oder mit Blumendraht aufgespießt. Auch die Parfumflakons, Glaskugeln, Dichtungsringe oder Sicherheitsnadeln sind nur Mittel zum Zweck, das heißt der formale Anlass zur Gestaltung, aber ohne direkte Bedeutung für die Bildaussage, selbst dann nicht, wenn der Titel nur „Sicherheitsnadeln“ lautet.
So nüchtern sind die Titel nicht immer, weil Renate Fabricius anders als die streng Konkreten für Bilddeutungen durchaus offen ist. So nannte sie das Reliefbild mit den durch Draht kreuz und quer verbundenen Deckeln der Parfumflakons, in die sie kleine Figürchen gesteckt hatte, „NSA, CIA, BND“ und eine der Tafeln mit den vielfach in sich verschlungenen Drahtverbindungen zwischen den Dichtungsringen „Die Gedanken sind frei“. Auch eine „Moderne Ikone“ ist darunter. Das sind auf bräunlicher Leinwand befestigte vergoldete Korkplättchen, die ihre Gebrauchsspuren deutlich zeigen. Sie bedecken den Bildgrund nicht vollständig und brechen damit das System der strengen Reihung. Für Renate Fabricius sind diese Auslassungen auf das Leben bezogen, in dem es auch nicht ohne Blessuren abgeht.
Vergleicht man das erste Reliefbild „Quadrat bunt“ von 1998 mit „Freude“ von 2013, kann man erkennen, welch gestalterische Freiheit Renate Fabricius ihrem Material gegenüber gewonnen hat. Sie setzt es nicht mehr unbedingt flächendeckend ein und gibt ihm stets einen neuen Rhythmus vor. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sie zwischenzeitlich den Blumendraht als Hilfsmaterial zu nutzen begonnen hat. Die Korkplättchen kleben sozusagen nicht mehr auf der Leinwand, sondern schweben davor. Das heißt, sie kann wie bei „Freude“ von einer verdichteten Mitte mit kleinem Abstand zur Leinwand nach außen hin immer höher und lockerer werden. Sie kann aber auch wie in den „Goldenen Soldaten“ mehrere Reihen von Korkplättchen übereinander stecken und so eine Verdichtung erreichen, die erst im Blick von der Seite sichtbar wird. So erlaubt sie ihrem Material auch eine gewisse Verselbständigung, wenn die vergoldeten Korkringe vor der Leinwand mäandern.
Zwei besonders beeindruckende Arbeiten sind „Wimpernauge“ und „Falsche Wimpern“, in denen Fabricius die mit Autolack versilberten Korkplättchen so dicht verarbeitet hat, dass ihre kreisrunde Anordnung scheinbar die Schwerkraft überwindet, denn die an dem gebogenen Blumendraht befestigten Plättchen fallen in alle Himmelsrichtungen. Das ist nur möglich, weil sie sich ineinander verhaken. Trotzdem bleiben sie beweglich. Hier können Licht und Schatten ein wirkungsvolles Spiel entfalten.